J. Zwicker: Der Fall Charles Davis

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Title
Der Fall Charles Davis. Ein politisches Vergehen zwischen Polizeiraison und Strafverfolgung 1950–1951


Author(s)
Der Fall Charles Davis
Editor(s)
Zala, Sacha
Series
Quaderni di Dodis (11)
Published
Bern 2019: Diplomatische Dokumente der Schweiz (DDS)
Extent
301 S.
by
Heiko Haumann, Departement Geschichte, Universität Basel

Am 2. November 1950 erfuhr Elisabeth Pfister, dass ihre Post sowie die ihres ehemaligen Mannes Frédéric Eggenschwyler, von dem sie geschieden war, an ein Unternehmen in Genf umgeleitet worden war. Ihre Unterschrift war gefälscht, und sie erkannte auch von wem: vom US-Amerikaner Charles Davis, mit dem sie kurze Zeit liiert gewesen war. Eggenschwyler und Pfister erhoben Klage. Der damals 23-jährige Davis gab die Fälschung zu. Zunächst sah es so aus, als handele es sich um eine banale private Angelegenheit. Doch schnell stellte sich heraus, dass Davis Spionage betrieben hatte. Daraufhin wurde er am 23. November 1950 festgenommen.

Stück für Stück entfaltet Josef Zwicker den ausgesprochen komplexen Ablauf des Verfahrens, bis das ganze Ausmass des Skandals sichtbar wird. Die Spionagetätigkeit Davis’, eines aus der US-Marine entlassenen, beruflich gescheiterten Mannes, der sich aus antikommunistischer Gesinnung, vielleicht auch auf der Suche nach einem Einkommen, dem Geheimdienst anbot, war eigentlich politisch ohne grosse Bedeutung, wurde dilettantisch bewerkstelligt und führte zu kaum ernsthaften Ergebnissen. Dennoch – oder gerade weil sie eigentlich unbedeutend war – machen die Affäre und ihre Untersuchung durch Zwicker Bemerkenswertes deutlich.

Bald war klar, dass Davis zahlreiche «linke» Personen, überwiegend Kommunisten, bespitzelt hatte, indem er sich selbst als einen Linken ausgegeben und damit sowie mit gefälschten Empfehlungsschreiben deren Vertrauen erschlichen hatte. Als sein Auftraggeber schälte sich das FBI in den USA heraus. Daneben nannte Davis noch das Komitee für «un-amerikanische Umtriebe» und den «Kommunistenjäger» Senator Joseph McCarthy. Ausgangspunkt sei gewesen, die Tätigkeit amerikanischer Linksextremisten in der Schweiz zu überwachen. Daraus hätten sich dann Berichte auch über diejenigen Schweizer Kommunisten ergeben, mit denen die US-Amerikaner Kontakt gehabt hätten. Das interessierte nun die Schweizer Behörden sehr. Statt Davis auszuschaffen, wie es die USA wünschten, liessen sie sich auf Weisung des Bundesrates von Davis ausführlich über die bespitzelten Linken informieren. Zahlreiche neue Fichen wurden auf dieser Grundlage angelegt. Dabei übernahm die Politische Polizei Davis’ Angaben ungeprüft, obwohl es sich – wie sich herausstellte – überwiegend schlicht um fehlerhafte oder gar erfundene Denunziationen handelte. Für die Betroffenen hatte das vielfach nachteilige Folgen.

In den Vorlagen an den Bundesrat kam es zu einer folgenreichen «Verschiebung» (S. 13 u. ö.): Die Bundesanwaltschaft erwähnte das FBI nicht mehr als Auftraggeber. Stattdessen nahm nun McCarthy mehr und mehr eine prominente Rolle ein – obwohl er lediglich am Rande mit Davis etwas zu tun gehabt hatte, dieser hatte nur mit ihm angegeben. Der stellvertretende Bundesanwalt René Dubois, der neben dem Chef der Bundespolizei, Werner Balsiger, in diesem Fall eine entscheidende Rolle spielte, benutzte diese Verbindung jedoch, um auch intern vom FBI abzulenken. Man wollte offenbar die USA nicht verärgern. Dahinter standen nicht zuletzt wirtschaftliche Interessen – unmittelbar im Handel mit den USA sowie indirekt aufgrund des Druckes, den die USA auf die Schweiz aufgrund ihrer wirtschaftlichen Beziehungen mit den kommunistischen Staaten Osteuropas ausübten. Das von den Behörden gezeigte Entgegenkommen gegenüber den USA, das sprachlich manchmal an ein Anbiedern grenzt, ist durchaus eindrucksvoll.

Deutlich wird in diesem Verfahren die fehlende Trennung der Ebenen Polizei, Geheimdienste, Bundesanwaltschaft und Politik, aus der eine «Vermischung der Funktionen» folgte (S. 269). Der Staatsschutz war wichtiger als die Rechtsstaatlichkeit mit einer echten Gewaltenteilung. Bei Politikern und Behördenvertretern herrschte als Selbstverständlichkeit ein antikommunistischer Grundkonsens. Man sprach von der «inneren Front» bei der Bekämpfung des Kommunismus (S. 215). Heute kaum noch nachvollziehbar, befürchtete man damals einen Putsch – gerade in Genf, wo die Kommunisten relativ stark waren – und traf geheime Vorkehrungen mit verschärften Staatsschutzbestimmungen.

Im Sommer und Herbst 1951 kam der Fall vor den Untersuchungsrichter und das Bundesgericht in Lausanne. Wieder hielt die Bundesanwaltschaft das FBI aus dem öffentlichen Verfahren heraus. Untersuchungsrichter Raymond Jeanprêtre ging höchst oberflächlich vor und vermied es auch in seinem fragwürdigen Abschlussbericht, vertieft Aufklärung zu schaffen. Er entschuldigte das selbst in seinem Begleitschreiben damit, er habe wegen starker Ischias-Schmerzen das Bett hüten müssen und deshalb das Dossier bei der Abfassung des Berichts nicht nutzen können. Tatsächlich dürfte die Tätigkeit des Untersuchungsrichters als Mitglied einer Kommission, die wichtige Verhandlungen mit Vertretern der USA führte, seine Ausarbeitung beeinflusst haben. Die USA sollten in der Öffentlichkeit nicht in einem schlechten Licht erscheinen. Ähnlich dachte auch die Bundesanwaltschaft.

Schliesslich fand dann am 15. und 16. Oktober 1951 der Prozess vor dem Bundesgericht statt. Besondere neue Erkenntnisse ergaben sich nicht. McCarthy galt als Auftraggeber Davis’, der aus eigenem Antrieb gehandelt habe. Seine Spionage habe er somit nicht im Auftrag einer staatlichen Behörde der USA, sondern höchstens im Interesse dieses Staates betrieben. Bundesanwalt Dubois schreckte nicht davor zurück, den Angeklagten herabzuwürdigen. Er sei ein «amoralisches und verdorbenes Individuum», «ein Angeber und Lügner». Möglicherweise habe dies etwas mit Vererbung zu tun. Davis sei «von sehr durchschnittlicher Intelligenz, ‹was aber nicht heisst, dass er strohdumm ist. Wie alle Leute seiner Sorte – und vielleicht seiner Rasse – fehlt es ihm nicht an Schlauheit. Er ist sogar durchtrieben und manchmal geschickt›» (S. 250). Dass Davis in fast allen offiziellen Berichten als «Neger» bezeichnet wird, ist in der damaligen Zeit nicht besonders auffällig, obwohl der Begriff auch schon damals abwertend gemeint war. Doch hier äussert sich einer der höchsten Repräsentanten des Staates in seiner Anklagerede deutlich rassistisch. Soweit ersichtlich hat das damals niemand gerügt. Verurteilt wurde Davis wegen politischen Nachrichtendienstes zu acht Monaten Gefängnis, getilgt durch die Untersuchungshaft, und zu zehn Jahren Landesverweis. Am 20. Oktober 1951 reiste Davis zurück in die USA.

Josef Zwicker (1944–2017), von 1992 bis 2007 Staatsarchivar von Basel-Stadt, wurde durch seine Lektüre einer merkwürdigen Korrespondenz zwischen verschiedenen Departementen des Bundesrates auf diesen Fall aufmerksam. Nach seiner Pensionierung ist er ihm – wie es seine Art war – gründlich, präzise und hartnäckig nachgegangen. Das Manuskript war bei seinem Tod fast abgeschlossen. Sacha Zala hat dann daraus dankenswerterweise, zusammen mit Mitarbeitern und unterstützt von der Familie, das vorliegende Buch fertiggestellt. Es liest sich teilweise wie eine Kriminalgeschichte und ist zugleich ein Muster historischen Arbeitens.

Zwicker versetzt sich in die Sichtweisen der betreffenden Personen hinein und urteilt nicht von aussen. Seine Interpretationen sind somit nicht einfach plakativ – was in Anbetracht der skandalösen Umstände naheliegend wäre –, sondern differenziert und deshalb umso überzeugender. Er lässt uns – nicht zuletzt in den ausführlichen Anmerkungen – an seinen Überlegungen und Forschungsschritten teilhaben. Gerade für Studierende ist das Buch lesenswert, weil es zeigt, wie man mit Quellen umgehen muss und wie man zu überzeugenden Interpretationen kommt. Geschult durch seine Erfahrungen als Archivar und als bei Františ ek Graus in die Lehre gegangener Mittelalter-Historiker liest Zwicker die Quellen besonders sorgfältig. Auch Randbemerkungen, Anstreichungen oder Stempelaufdrucke bezieht er in seine Analyse ein. Auf diese Weise kann er zum Beispiel den Austausch eines Dokumentes – wahrscheinlich durch Bundesanwalt Dubois – nachweisen, der die Verwicklung des FBI in die Affäre vertuschen sollte.

Josef Zwickers Buch macht nachdenklich, wirft ein erhellendes Licht auf die damalige Zeit sowie auf die Verhältnisse in der Schweiz und kann damit die zukünftige Forschung zur Periode des Kalten Krieges anregen. Darüber hinaus ist es ein Vorbild für geschichtswissenschaftliches Arbeiten und für die Reflexion von Methoden, Vorgehensweisen und Argumentationen

Zitierweise:
Haumann, Heiko: Rezension zu: Zwicker, Josef: Der Fall Charles Davis. Ein politisches Vergehen zwischen Polizeiraison und Strafverfolgung 1950–1951, aus dem Nachlass herausgegeben von Sacha Zala, Bern 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 70 (3), 2020, S. 501-504. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00071>.

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